In „Turn in the Wound“ zeichnet Abel Ferrara ein erschütterndes Bild des Kriegs in der Ukraine. Dazu mischt er Kriegsaufnahmen und Interviews mit einem Auftritt von Patty Smith. Die US-amerikanische Lyrikerin liest zwischendurch Gedichte von Antonin Artaud, René Daumal und Arthur Rimbaudor vor, die zusammen mit den Aussagen von Soldaten, Kämpfern und Zivilisten und den Worten ihres Präsidenten ein Gesamtbild dieses schrecklichen Kriegs auf europäischem Boden ergeben. Über weite Strecken zeigt der Film das Leben in der ukrainischen Hauptstadt Kiew seit Ausbruch des Krieges im Februar 2022.
Außerdem kommt in diesem Dokumentarfilm der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj persönlich zu Wort. Auch Ferrara selbst ist im Film immer wieder zu sehen, wie er in den Krieg involvierte Personen interviewt. Der Film handelt davon, wie Kunst, Musik und Poesie die Gefühle von Menschen zum Ausdruck bringen, die in den Krieg involviert sind. Er zeigt, wie die Menschen mit dem endlosen Schmerz und der sinnlosen Gewalt umgehen, und wie sie alle von einer Befreiung von Krieg und Tyrannei durch die russischen Soldaten träumen.
Angesichts der angespannten politischen Lage in weiten Teilen Europas und nunmehr bald zwei Jahren Ukraine-Krieg steht die Berlinale 2024 ganz im Zeichen der Demokratie und möchte für mehr Diversität, Offenheit und Toleranz werben. Abel Ferrara setzt damit entschieden einen Kontrapunkt gegen den vom Frieden angetrieben Geist der Berlinale. In der Ukraine ist der Horror seit Kriegsausbruch stärker als die Kunst. Selbst die im Film von Patty Smith rezitierten Gedichte schaffen es nicht, den Horror dieses Krieges mit all seinen Grausamkeiten zu übertönen. Der Kampf um Freiheit und gegen die Unterdrückung steht daher stets im Mittelpunkt des Films.
Im Film lässt der Regisseur Abel Ferreira seine Gesprächspartner öfters für ein paar Minuten am Stück reden. Umgekehrt lässt sich der Regisseur sogar einmal selbst von einer Ukrainerin interviewen. Allerdings kommt jeder Interviewpartner genau einmal zu Wort. Das gilt selbst für den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, der im Film von der Widerstandsfähigkeit seiner Landsleute erzählt und um Übersetzungshilfe bittet. Neben dem ukrainischen Präsidenten ist auch Andriy Yermak Teil der Besetzung. Als ukrainischer Filmproduzent und Jurist fungiert er gleichzeitig als Leiter des Präsidialamts der Ukraine. Auf einer zweiten Ebene zeigt der Film dann Mittschnitte von einem Auftritt, den Patty Smith gemeinsam mit dem Soundwalk Collective im Centre Pompidou in Paris hatte. Atmosphärische Klänge gehen hier einher mit den Gedichten der oben genannten Poeten. Allerdings enden diese Sequenzen oft abrupt und verlieren damit einen Teil ihrer nachdenklichen Intensität. Letztlich sind die Künstler und damit auch das Filmteam ja bloß Eindringlinge in einer grausamen Realität, aus der die Betroffenen nicht oder nur unter erheblichen Mühen entkommen können. Möglicherweise wollte der Regisseur diesen Krieg in einen größeren Kontext über Konflikte einbinden.
Damit schafft der Film eine Verbindung zwischen der Schönheit der Poesie und dem Schrecken des Kriegs in der Ukraine, dessen Ende immer noch nicht absehbar ist. Manchmal weicht der Film jedoch von der umfassenden Perspektive des Kriegsgeschehens in der Ukraine ab und konzentriert sich zu sehr auf das Schicksal einzelner Personen, dennoch sorgen verschwommene Videoaufnahmen und Archivmaterial für eine starke Atmosphäre. Viele der Interviews und Filmsequenzen vermitteln durch ihren Mangel an Licht ein Gefühl der Gefahr und Unmittelbarkeit durch das Kriegsgeschehen. So wird der Krieg auch für das Filmpublikum greifbar und nahbar. Natürlich zittern auch die Interviewten häufig, wenn sie vor der Kamera von ihren traumatischen Erlebnissen berichten.
Der amerikanische Drehbuchautor und Regisseur Abel Ferrera drehte seine ersten Amateurfilme bereits als Teenager. In Hollywood gilt er seit den 1970er-Jahren als einer der ganz großen Bad Boys. Geboren wurde er als Sohn eines italienischen Einwanderers sowie einer irischen Mutter in der New Yorker Bronx. Entscheidend prägte ihn der deutsche Filmemacher Rosa von Praunheim. In seinen Filmen stehen häufig religiöse Fragen im Fokus, doch dient die Religion eher als Metapher, so zum Beispiel in den Filmen Bad Lieutenant oder in Das Begräbnis. Immer wieder spiegeln seine Filme auch die Sehnsucht nach Erlösung und dem Guten im Menschen inmitten von Gewalt und Zerstörung wider. Für den Film „Siberia“ erhielt der Regisseur 2020 eine Einladung in den Wettbewerb der 70. Internationalen Filmfestspiele Berlin. Zeitweilig lebte er in Rom.
Die Uraufführungdes Film fand am 16. Februar 2024 im Rahmen der Berlinale statt. Als weiterer Film über den Ukraine-Krieg im Rahmen der Berlinale handelt „A Bit Of A Stranger“ der ukrainischen Filmemacherin Svitlana Lishchynska ebenfalls vom derzeitigen Krieg in der Ukraine.
Titel: Turn in the Wound
Von: Abel Ferrara
Mit: Volodymyr Oleksandrovyč Zelenskyj, Andrei Yermak, Patti Smith
Länder: Vereinigtes Königreich / Deutschland / Italien / USA 2024
Sprache: Ukrainisch, Englisch
Länge: 85’
Sektion: Berlinale Special
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